Fortschritte in der "Palliative Care-Therapie" Ausbildung

Durch die, durch das Covid-Virus erzwungene Pause ist es mir möglich geworden, die freigewordene Zeit zu nützen und einen Weiterbildungskurs mit dem dazugehörigen Skript zu entwickeln bzw. zu schreiben.

Das (erfreuliche) Ergebnis meiner Bemühungen und meines Einsatzes:

  • ein Palliaiv-Therapie-Einführungskurs wird im Rahmen eines Heilmasseurkurses in das Programm aufgenommen,
  • ein Palliativ-Therapie-Fortbildungskurs wird  als eigener Kurs für Heilmasseure in den Fo-Bi-Katalog aufgenommen und zwar österreichweit!

Beides ERSTMALS in Österreich! 👍 - und darauf bin ich wirklich stolz.

Wie in Österreich,zu meinem wirklich großten Beddauern, üblich, wenn man etwas "Neues" entwickelt, ist ein Wehmutstropfen mit dabei: die Österreichische Palliative Gesellschaft ist an der Weiterbildung für Heilmasseure auf diesem Gebiet leider überhaupt nicht interessiert und lehnt eine Zusammenarbeit vehement ab. Schade um diese einzigartige große, leider, wieso auch immer, vergebene Chance.

wichtigstes aus einem Vortrag

Tumorschmerzen

(aus einem Zoom-Vortrag am 18.10.22)

 

Prof. Dr. Eva MASEL, pall. Medizinerin am AKH, MedUni

Schmerz kommt von SMERDOS (griechisch) grässlich, grauenvoll, furchtbar

Man muss bei Schmerztherapien kreativ sein!

Schmerz ist ein Notfall des Körpers

Schmerz kann sichtbar aber auch unsichtbar sein

Es tut länger weh, wenn man alleine ist, Einsamkeit ist ein Problem!

Schmerz ist ein Progresszeichen bei Krebs

Schmerzbehandlungen müssen an die Person angepasst sein

Schmerzpflaster nicht über frisch gestochene Tatoos kleben

Eine (DIE) wichtige Frage an Patient*in:

Was soll ich über sie wissen, um sie bestmöglichst betreuen zu können?

40 bis 70 Prozent der Krebspatient*innen haben Schmerzen

Californiarocket” bei Fatique

Erfolg ist die Fähigkeit, von einem Misserfolg zum Anderen zu gehen ohne die Begeisterung zu verlieren” (Churchil)

 

Kommunikation und Schmerzen

(aus einem Zoom-Vortrag am 18.10.22)

Dr. Anna KITTA, Pall-Med-Klinik Innere Medizin, MedUni Wien, narrativ medicin /Colombia University

 

Schmerz ist häufig ein Zeichen von Krankheitsprogress

Surprise Question und double surprise Question:

  • Bist du überrascht, wenn Pat nächste Woche stirbt?

  • Bist du überrascht wenn Pat nächstes Jahr noch lebt?

Patient*innen geben meistens kein Feedback

Keine Versprechen machen, welche unerreichbar sind!

Erreichbare Ziele artikulieren und ausmachen

Fragen – zuhören – paraphrasierend Fragen – Informieren – nachfragen – zuhören usw.

Meinungen der Pat nicht zu rasch entwerten

die Qualität des Lebens ist, was Pat sagt!

Pat will Informationen

Pat will Personen um sich, welche die Situation aushält

Pat will von Menschen behandelt werden

Total Pain

physisch - psychisch

- spirituell - sozial

Wichtige Frage an Pat:

Warum geht es ihnen so schlecht?”

Verbesserung der Lebensqualität durch palliative Medizin

Trotz enormer Fortschritte der Krebsforschung in den letzten Jahrzehnten können nicht alle Patienten von ihrer Krankheit geheilt werden. Ist ein Tumorleiden so weit fortgeschritten, dass das Lebensende näher rückt, setzt die Palliativmedizin ein. Bei ihr stehen nicht mehr Heilung und Lebensverlängerung im Vordergrund, sondern der Erhalt von Lebensqualität, Schmerzlinderung, die Beseitigung anderer Beschwerden sowie Zuwendung und Nähe.

Die Palliativtherapie (pallium lat. Mantel, Umhüllung) versucht – neben der Verbesserung des körperlichen Wohlbefindens – dem Patienten auch bei der Bewältigung emotionaler und sozialer Belastungen zu helfen, die im Zusammenhang mit der Krankheit auftreten. Auch die Bedürfnisse der Angehörigen soll in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden.

Die Palliativmedizin wird oft als die Gesamtheit lindernder Maßnahmen für die letzten Lebenswochen oder Tage betrachtet. Tatsächlich sind lindernde Maßnahmen jedoch auch zu einem früheren Zeitpunkt im Verlauf einer Tumorerkrankung wichtig. Experten fordern deshalb, palliativmedizinische Gesichtspunkte und Behandlungsmaßnahmen frühzeitig in die onkologische Standardversorgung einzubinden – was in manchen Kliniken bereits praktiziert wird. Auch in der S3-Leitlinie Palliativmedizin heißt es: „Allen Patienten soll nach der Diagnose einer nicht heilbaren Krebserkrankung Palliativversorgung angeboten werden, unabhängig davon, ob eine tumorspezifische Therapie durchgeführt wird.“ Wann für welche Maßnahme der richtige Zeitpunkt ist, sollte mit den behandelnden Ärzten abgestimmt werden.

Welche Symptome werden behandelt?

Zentraler Bestandteil einer Palliativtherapie ist die Kontrolle und Linderung von für den Patienten belastenden Symptomen. Zu den häufigsten Symptomen gehören Schmerzen, Energielosigkeit, Müdigkeit, Atemnot, Verstopfung, Übelkeit und Erbrechen.

Besonders die Angst vor einem qualvollen Sterben ist für viele Betroffene und Angehörige sehr belastend. Doch kein Patient muss – und soll auch nicht – unnötige Schmerzen erdulden. Heutzutage können über 90 Prozent aller Patienten mit tumorbedingten Schmerzen so behandelt werden, dass sie weitgehend schmerzfrei sind. Bei den anderen kann der Tumorschmerz zumindest auf ein erträgliches Maß gelindert werden.

Angst vor Opiaten brauchten Patienten nicht zu haben, betont Prof. Dr. Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik für Palliativmedizin der Universität München: „Frühzeitig eingesetzt, unterbinden Morphin und andere Opiate die Chronifizierung von Schmerzen und sorgen dafür, dass die Patienten gar keine extrem hohen Dosierungen brauchen. Die Befürchtungen, Opioide machen psychisch abhängig und hören irgendwann auf zu wirken, treffen nicht zu.“

Das Ziel der Palliativmedizin liegt dabei eindeutig  auf der Symptomlinderung, nicht auf einer Beeinflussung des Todeseintrittes:

"Palliativmedizin/Palliativversorgung(/Pallativtherapie) bejaht das Leben

und sieht das Sterben als natürlichen Prozess: "wder beschleunigt noch

zögert sie den Tog hinaus":

heißt es in der "Leitline Palliativmedizin. Palliative Maßnahmen helfen dem

Sterbenden, den Übergang so wenig angst- und schmerzvoll zu erleben wie

mögllich!

 

Allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung

Besteht beim Patienten Bedarf für eine Palliativversorgung, wird zunächst geklärt, welche Symptome den Patienten am meisten belasten und welche Wünsche bei Patienten und Angehörigen im Vordergrund stehen. Je nachdem, wie komplex das Krankheitsbild, die individuelle Situation und die sich daraus ergebenden palliativen Maßnahmen sind, wird die Entscheidung für eine Form der Palliativversorgung getroffen. Man unterscheidet dabei grob zwischen Angeboten der allgemeinen (APV) und der spezialisierten Palliativversorgung (SPV). Darüber hinaus gibt es übergreifende Angebote wie stationäre Hospize oder Hospizdienste.

Sind die Beschwerden der Patienten noch nicht so stark ausgeprägt, werden meist Maßnahmen der allgemeinen Palliativversorgung gewählt. Das sind z. B. palliativtherapeutische Interventionen auf einer Krankenhausstation, in einer Pflegeeinrichtung, durch einen Pflegedienst oder (ambulant) beim Hausarzt.

Spezialisierte Palliativversorgung kommt zum Einsatz, wenn das Beschwerdebild komplexer oder die einzelnen Symptome sehr ausgeprägt sind und nur durch spezialisierte Fachkräfte wirksam behandelt werden können. Die spezialisierte Versorgung muss von einem Arzt verordnet werden.Sie erfolgt entweder ambulant oder stationär. Im ambulanten Bereich ist die spezialisierte Palliativversorgung gesetzlich verankert als SAPV (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung). Sie wird in der Regel von einem Team aus qualifizierten Ärzten, Pflegekräften, Psycho- und Physiotherapeuten (Palliative Care Team) übernommen und soll es ermöglichen, dass auch schwer kranke Patienten weiter in ihrer gewohnten Umgebung leben können. Anspruch auf diese Versorgung haben gesetzlich krankenversicherte Krebspatienten, denen es sehr schlecht geht oder bei denen die Sterbephase absehbar ist. Jeder niedergelassene Haus-, Facharzt oder Krankenhausarzt kann die SAPV verschreiben.

Stationäre Angebote der spezialisierten Palliativversorgung bieten z. B. eine Palliativstation, der Palliativdienst im Krankenhaus oder einer palliativmedizinischen Tagesklinik. Bei einer Palliativstation handelt es sich um eigenständige, an ein Krankenhaus gebundene Abteilungen. Hier arbeiten unterschiedliche Berufsgruppen zusammen, ein Arzt steht rund um die Uhr zur Verfügung. Die Zimmer und die gesamte Station sind wohnlich gestaltet und sollen möglichst wenig an einen Krankenhausbetrieb erinnern. Für Angehörige stehen meist Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Indikationen zur Aufnahme auf eine Palliativstation sind neben therapieresistenten Schmerzen u.a. Störungen der Atmung, Ernährungs- und Verdauungskomplikationen, Kachexie (Auszehrung), und andere Beschwerden bei Tumorerkrankungen. Ganz generell ist eine „Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit“ Voraussetzung für eine Aufnahme auf eine Palliativstation.

Begleitung in der letzten Lebensphase

Eine Sterbebegleitung im engeren Sinne liegt in der Verantwortung ambulanter Hospizdienste oder stationärer Hospize. Hospize begleiten den Patienten mit seinen psychischen, sozialen und seelsorgerischen Bedürfnissen in der letzten Phase des Lebens und bieten auch den Angehörigen Unterstützung an.

Das Betreuungskonzept orientiert sich an einem ganzheitlichen Menschenbild. Sterben und Tod werden als Bestandteile des Lebens betrachtet. Sterben und Sterbende sollen nicht ausgegrenzt, sondern in unser Leben integriert werden. Der Hospizbewegung geht es weder um eine künstliche Verlängerung noch eine Verkürzung des Lebens.

Hospizarbeit erfordert ein enges Zusammenwirken von Freunden, Angehörigen, ehrenamtlichen Helfern, Pflegern, Ärzten, Sozialarbeitern und Seelsorgern für und mit den kranken Menschen. Der Patient soll, sofern er es wünscht und die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, so lange wie möglich in der Familie verbleiben. In der Phase der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen können Angehörige und Freunde über den Tod hinaus begleitet und unterstützt werden.

Fachberater:
Prof. Dr. med. Florian Lordick, Universitäres Krebszentrum Leipzig

Überengagierte Versorgung am Lebensende?

Internationale Analysen zeigen, dass zwischen 8 und 30 % aller Krebspatienten in den letzten 14 Lebenstagen noch eine Tumortherapie erhalten. Die Folgen: schlechte Symptomkontrolle und Lebensqualität, Sterben im Krankenhaus sowie erschwerte Trauer für die Hinterbliebenen.

Die Versorgung von Sterbenden soll sich an der Lebensqualität und dem Wohlbefinden ausrichten. Alle Maßnahmen, die den Sterbeprozess hinauszögern oder die Patienten zusätzlich belasten, sollen unterlassen werden. Dazu gehört insbesondere, dass in dieser Situation nicht mehr indizierte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen und Medikationen unterlassen beziehungsweise beendet werden. Wenn dies unterbleibt, spricht man von Überversorgung oder überengagierter Versorgung („overuse“, „aggressive treatment“) am Lebensende, da davon auszugehen ist, dass in dieser Situation der potenzielle Schaden den Nutzen überwiegt.

Die Grundsätze der Bundes­ärzte­kammer zur ärztlichen Sterbebegleitung halten dies ebenso fest wie die S3-Leitlinie Palliativmedizin für nicht heilbare Krebspatienten und die Gemeinsam-Klug-Entscheiden-Empfehlungen der Arbeitsgruppe Palliativmedizin der Deutschen Krebsgesellschaft e. V.  und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin

Herausforderungen bei der Entscheidungsfindung

Diese unbestritten wichtigen Empfehlungen stellen sowohl die spezialisierte Palliativversorgung als auch die haus- oder fachärztlich geleistete allgemeine Palliativversorgung nicht nur bei Krebspatienten vor große Herausforderungen. Die Einschätzung der Prognose und das Erkennen der Sterbephase sind selten einfach. Bei onkologischen Patienten sind in diesem Zusammenhang auch Schnittstellenprobleme nicht zu unterschätzen. Die tumorspezifische Therapie liegt in den Händen der Onkologen, die Finalversorgung außerhalb des Krankenhauses erfolgt in der Regel durch Hausärzte, unterstützt durch SAPV-Teams, oder auf spezialisierten Palliativstationen beziehungsweise im Hospiz. Eine frühe palliativmedizinische Mitbetreuung parallel zur onkologischen Behandlung wie in der S3-Leitlinie Palliativmedizin gefordert, ist noch nicht flächendeckend implementiert.

Die individualisierten Tumortherapien stellen vor ganz neue Herausforderungen. Antikörper- und Immuntherapien werden oft auch in weit fortgeschrittenen Krankheitsstadien durchgeführt. Bei den Betroffenen und ihren Angehörigen wird dadurch viel Hoffnung geweckt, und der Gedanke an das mögliche Sterben tritt sowohl bei Patienten als auch bei den Nahestehenden in den Hintergrund. Ein primär gutes Ansprechen unterstützt die Verdrängung der potenziell sehr limitierten Prognose. Bisher fehlen für diese neuen Substanzen evidenz- oder expertenkonsensbasierte Empfehlungen zur Therapiebegrenzung am Lebensende.

Auf der Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) wurden die Chancen der individualisierten Medizin intensiv diskutiert, Deeskalation beziehungsweise Therapiebegrenzung wird nur selten thematisiert (s. dazu auch den Bericht im Deutschen Ärzteblatt 33–34/2018). Die etablierten Regeln für die kritische Reevaluation der Indikation für eine Chemo- oder auch Strahlentherapie wie

  • der Progress unter Therapie,
  • ein zunehmend schlechter Allgemeinzustand,
  • limitierte Ressourcen oder
  • ausgeprägte Hämato- oder Organtoxizität

sind nicht einfach übertragbar. Bei Antikörper-oder Immuntherapien wird teilweise vor Therapieansprechen in den ersten Wochen oder Monaten nach Therapiebeginn über einen „Pseudoprogress“ berichtet, der die Einschätzung der zu erwartenden Wirksamkeit erschwert.

Im Vergleich zu einer Chemotherapie werden die neuen Substanzen oft als verträglicher und nebenwirkungsärmer beschrieben. Dabei wird vernachlässigt, dass in den Zulassungsstudien zumeist Patienten in gutem Allgemeinzustand eingeschlossen wurden, sodass die Übertragbarkeit auf sehr geschwächte und multimorbide Patienten kritisch hinterfragt werden sollte. Die orale Verfügbarkeit erleichtet auch dieser Patientengruppe die Anwendung im ambulanten häuslichen Bereich oder in Pflegeeinrichtungen.

Das Thema „Tumortherapie im Hospiz“ wird zunehmend intensiv diskutiert. Es ist eine große Herausforderung, Nutzen und Schaden der tumorspezifischen Therapie nah am Lebensende adäquat abzuwägen und den richtigen Zeitpunkt für eine Therapiezieländerung hin zu der alleinig palliativen Versorgung zu finden. Teamkonferenzen und auch Ethikberatungen können dabei sehr hilfreich sein. Ein aktuelles Review zeigt, dass überengagierte Versorgung onkologischer Patienten nicht erst in der letzten Lebensphase beobachtet wird. Schleicher und Kollegen analysierten 30 Studien mit dokumentierter überengagierter medikamentöser Versorgung, darunter 16 Beispiele für eine Überversorgung mit Supportiva und 17 Beispiele von überengagierter medikamentöser Tumortherapie.

Brownlee und Kollegen zeigten auf, dass Überversorgung kein alleiniges Problem reicher Länder ist, sondern auch in Ländern mit limitierten medizinischen Möglichkeiten beobachtet wird.

Belastung durch tumorspezifische Therapie

Eine Tumortherapie in der letzten Lebensphase kann sowohl für Patienten als auch für Nahestehende eine zusätzliche Belastung, manchmal auch einen Schaden bedeuten. Die Literatur zu dem Thema ist eindeutig. Patienten unter Tumortherapie in den letzten Lebenstagen zeigen im Vergleich zu (alleinig) palliativ versorgten Patienten eine höhere Symptombelastung sowie eine schlechtere Lebensqualität und kommen oft erst sehr spät mit spezialisierten Hospiz- und Palliativangeboten in Kontakt.

Dieser späte Kontakt führt dazu, dass die Patienten gehäuft nicht am gewünschten Ort sterben, sondern zumeist im Krankenhaus. Angehörigen sind durch die symptombelasteteren Sterbeverläufe stärker belastet beziehungsweise zeigen erschwerte Trauerverläufe. Die S3-Leitlinie Palliativmedizin übernimmt deshalb auch den von Craig Earle erstmals 2003 formulierten negativen Qualitätsindikator „Anteil nichtheilbarer Krebspatienten mit tumorspezifischer Therapie in den letzten 14 Lebenstagen“ (Qualitätsziel möglichst niedrig, Earle-QI, QI6 in S3-LL Palliativmedizin).

Der Anteil verstorbenenr Krebspatienten mit Tumortherapie im letzten Lebensmonat in Deutschland liegt nach Analysen der Bertelsmann Stiftung bei circa 10 %. Eigene Analysen der präterminalen Therapien bei primär metastasierten oder rezidivierten Patienten mit Lungen-, Darm- oder Hautkrebs zeigten, dass zwischen 8 und 30 % der Patienten, die innerhalb von 12 Monaten nach Diagnose starben, in den letzten 14 Lebenstagen eine tumorspezifische Therapie erhielten. Der signifikante Anstieg des Anteils von Melanompatienten mit spezifischen Therapien in den letzten 14 Lebenstagen bildet die Implementierung der biomarkerbasierten Therapie ab. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit von Empfehlungen zur Deeskalation dieser Therapien.

Eine multizentrische Erhebung des Earle-QI an 4 deutschen Standorten bei Patienten mit primär metastasiertem Lungenkrebs zeigte, dass dieser Parameter unproblematisch aus der Tumordokumentation erhebbar ist. Da an den Standorten sehr unterschiedliche Patientengruppen betreut wurden, war ein Benchmarking nicht möglich. Dennoch ist dieser Qualitätsindikator sehr gut für ein internes Qualitätsmanagement geeignet.

Überengagierte Medizin ist auch in anderen Bereichen präsent

Nicht nur Krebspatienten werden am Lebensende überengagiert behandelt. Bei multimorbiden und fortschreitend erkrankten nichtonkologischen Patienten mit limitierter Prognose werden vorab sinnvolle Verordnungen viel zu selten beziehungsweise zu spät kritisch hinterfragt. Spitzenreiter in den aktuellen Reviews zum Thema waren Lipidsenker, gefolgt von Antihypertensiva, Thrombozytenaggregationshemmern und oralen Antidiabetika. Kranken­haus­auf­enthalte sind einschneidende Ereignisse, die sich aufgrund der dort zur Verfügung stehenden interdisziplinären Expertise auch zur Reevaluation von Therapie- und Gesundheitszielen anbieten. Dies scheint vielfach nicht zu gelingen.

Ein aktuelles Review zeigt, dass dies bei mehr als einem Drittel der unheilbar erkrankten Patienten nicht gelingt (Spannweite 33–38 %). Die Analyse der Arztbriefe der letzten Krankenhausentlassung vor dem Tod zeigte, dass häufig nicht mehr indizierte Medikamente zur Primär- und Sekundärprävention weiter verordnet wurden. 75 % der entlassenen Patienten erhielten Lipidsenker (Statine), 51 % Medikamente zum Magenschutz und 47 % Antihypertensiva.

Es gibt ausreichend Evidenz, dass insbesondere Statine, Antihypertensiva, Antikoagulanzien und antihygerpglykämische Medikamente in der Regel in den letzten 3 Lebensmonaten nicht nur nutzlos sind, sondern auch schaden können (ausführlich dazu die Reviews [20–24, 18]). Sicherheit und der patientenbezogene Nutzen des Absetzens der Statine bei Patienten mit einer limitierten Prognose (1 Monat bis 1 Jahr) wurde in einer prospektiv-randomisierten Studie gezeigt.

Die Brisanz des Themas kann auch exemplarisch anhand der Empfehlungen zur Thrombembolieprophylaxe (TEP) im Krankenhaus aufgezeigt werden. Die gültige S3-Leitlinie zur primären und sekundären TEP empfiehlt in eigenen Schlüsselempfehlungen bei allen hospitalisierten Krebspatienten für den gesamten Kranken­haus­auf­enthalt eine Thrombembolieprophylaxe, in der Regel mit niedermolekularen Heparinen. Erst am Ende des langen Hintergrundtextes wird knapp darauf verwiesen, dass „bei Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden und ausschließlich palliativsymptomatischer Versorgung diese Empfehlungen unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Patienten sinnvoll in das Gesamtkonzept der Betreuung eingeordnet werden sollen“.

Es ist bedauerlich und für den klinischen Alltag wenig hilfreich, dass hier nur auf Patientenbedürfnisse und -präferenzen Bezug genommen und der Wegfall der ärztlichen Indikation nicht thematisiert wird. Dabei ist in der Palliativsituation bekannt, dass der Verzicht auf eine TEP weder mit einer Verkürzung der Lebenszeit noch mit einem erschwerten beziehungsweise symptombelasteten Sterben einhergeht. In der Literatur besteht Übereinstimmung, dass Patienten mit einer Lebenserwartung von weniger als 3 Monate unabhängig vom Setting nicht von einer TEP profitieren.

„Deprescribing“ wird zu selten geprüft – und umgesetzt

In der Geriatrie und auch in anderen Fachrichtungen wird das „deprescribing“ intensiv diskutiert. Im deutschen Kontext ist es bislang unklar, wer letztendlich die Medikation bei multimorbiden Tumorpatienten kritisch durchsehen soll. Die demografische Entwicklung lässt eine Verschärfung dieser Situation erwarten. Ambulante Patienten in Deutschland werden fast immer gleichzeitig von verschiedenen Fachärzten und dem Hausarzt versorgt. Dabei muss im Einzelfall geklärt werden, wer die Verantwortung für die Überprüfung der Medikation hat.

Es ist bedauerlich, dass – wie oben angedeutet – der stationäre Aufenthalt als Trigger für eine kritische Evaluation der Medikation nicht unbedingt geeignet zu sein scheint. Patienten erwarten vom Hausarzt die Weiterverordnung der fachärztlich angeordneten Medikation und fordern diese oft auch unkritisch ein. Fachärzte wiederum erwarten, dass der Hausarzt den Gesamtüberblick für seinen Patienten hat – eine große Herausforderung angesichts des weiter wachsenden medizinischen Fachwissens.

Es wäre zu wünschen, dass die Expertise im Deprescribing ebenso selbstverständlich Bestandteil der medizinischen Aus- und Weiterbildung ist wie die Indikationsstellung für die entsprechende medikamentöse Therapie. Das gilt für den onkologischen Bereich ebenso wie für die übrigen Fachgebiete. Dass auch ökonomische Fehlanreize eine überengagierte Versorgung triggern können, sollte nicht unbeachtet bleiben.

Therapiewünsche der Patienten und unrealistische Therapieziele

Aus der Literatur ist bekannt, dass insbesondere Krebspatienten, die unter palliativer Zielsetzung behandelt werden, unrealistisch positive Therapieerwartungen haben. Die Ursachen sind vielfältig und sicher sowohl patientenseitig (Selbstschutz, Hoffnung bewahren wollen …) als auch arztseitig (fehlende Zeit für Gespräche, unzureichende kommunikative Kompetenz …) zu verorten. Der mögliche Zugewinn von Lebenszeit auch durch belastende, nebenwirkungsreiche Therapien wird sowohl in der Bevölkerung als auch von Patienten sehr unterschiedlich bewertet.

Die Perspektive der Angehörigen ist nochmals anders. Manchmal drängen eher Nahestehende auf maximale Therapie, im Unterschied zu den Patienten, die die eigenen Ressourcen und die Gesamtsituation realistischer einschätzen. Die emotionale Belastung von Angehörigen, die in Therapiezielfindung und -entscheidungen einbezogen werden, sollte nicht unterschätzt werden.

Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung überengagierter Versorgung ist der Konsens von Arzt und Patient über das (realistische) Therapieziel. Bei chronischen und fortschreitenden Erkrankungen sollten Arzt und Patient oder dessen Stellvertreter das Therapieziel gemeinsam individuell festlegen. Das schafft die Grundlage für die ärztliche Indikation und die Patienteneinwilligung. Beides ist die Voraussetzung für die Durchführung der Maßnahme. Bei multimorbiden Patienten gilt es, eher patientenrelevante Gesundheitsziele als Therapieziele zu identifizieren und gemeinsam zu priorisieren.

Auch in diesem erweiterten Konzept einer partizipativen Therapieziel- und Entscheidungsfindung verbleibt die Indikationsstellung beim Arzt. Neu ist der explizite Verweis auf das gemeinsam zu erarbeitende Gesundheits-/Therapieziel. In der Kurativsituation stellt sich die Frage nach dem Therapieziel in der Regel nicht. Es wird davon ausgegangen, dass in dieser Situation der Behandlungsnutzen „Überleben/Heilung“ den potenziellen Schaden durch Nebenwirkungen überwiegt.

Bei chronischen und fortschreitenden Erkrankungen sowie auch bei Multimorbidität können verschiedene Therapie- und Gesundheitsziele miteinander konkurrieren – und das sowohl patienten- als auch arztseitig. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Onkologen sehr häufig ein anderes patientenseitiges Therapieziel annehmen als die Patienten selbst. Die Autoren folgern, dass hier zu Ungunsten der Patienten von einem „Konsensus-Bias“ auszugehen sei. Diese Ergebnisse bestätigen die Notwendigkeit der gemeinsamen Therapiezielfestlegung.

S3-Leitlinie: Hilfestellung für das Gespräch mit dem Behandlerteam

Der derzeit konsentierte 2. Teil der S3-Leitlinie Palliativmedizin für nicht heilbare Krebspatienten widmet dem Thema „Therapiezielfindung“ ein eigenes Kapitel. Auch in dem 2015 publizierten 1. Teil der Leitlinie finden sich im Kapitel 9 „Kommunikation“ wertvolle Vorschläge für die Strukturierung des Patienten-Arzt-Gesprächs bei schwerwiegenden Änderungen im Krankheitsverlauf. Dieses Kapitel in der Patientenleitlinie kann auch Angehörigen für die Vorbereitung zum Arztgespräch empfohlen werden.

Für Ärzte sind darüber hinaus die Regeln der patientenzentrierten Kommunikation und Gesprächsleitfäden sehr hilfreich. Neben somatischen Krankheitsaspekten sollten auch die soziale, die emotionale und die spirituelle Dimension angesprochen werden. Wenn nach der Prognose gefragt wird, sollte ehrlich geantwortet werden – im Wissen um die Begrenztheit derartiger Aussagen. Die meisten Patienten möchten über Belange des Lebensendes sprechen, erwarten aber wiederum, dass der Arzt dieses Thema anschneidet. Werden Themen des Lebensendes frühzeitig angesprochen, führt das bei Patienten und Angehörigen in der Sterbephase zu mehr Zufriedenheit, reduziert die psychische Belastung und fördert eine passgenauere bedarfsorientierte medizinische Versorgung.

Als Erstes: nicht schaden …

Zur Vermeidung überengagierter Versorgung ist neben der Erfassung von Qualitätsindikatoren, der gemeinsamen Therapiezielfindung und der patientenzentrierten Kommunikation über Fragen des Lebensendes möglicherweise auch die Stärkung eines medizinethischen Grundsatzes aus der hippokratischen Tradition von Bedeutung, der dem Arzt Scribonius Largus zugeschrieben wird. „Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ („Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“) ist ein wichtiger Grundsatz, insbesondere auch dann, wenn eine Heilung nicht möglich ist. Das Prinzip des „Nicht-Schadens“ wird hier als erstes und wichtigstes genannt.Im Unterschied dazu stehen die in der modernen Medizinethik von Beauchamp und Childress etablierten 4 Prinzipien gleichrangig nebeneinander:

  • wohltun,
  • nicht schaden,
  • Gerechtigkeit und
  • Patientenautonomie,

die gegebenenfalls konfligieren beziehungsweise konkurrieren. Alltagserfahrungen in der palliativmedizinischen Versorgung zeigen, dass sowohl Patienten als auch Angehörige großes Verständnis dafür haben, dass Ärzte die Aufgabe haben, Schaden von ihren Patienten fernzuhalten, und zwar sowohl körperlichen als auch psychosozialen und seelischen Schaden.

Dieses Konzept des Nicht-Schadens ermöglicht den Einstieg in Therapiebegrenzungsgespräche auch mit Patienten, die überoptimistische Erwartungen an die moderne Medizin haben. Inwieweit die prioritäre Anwendung eines medizinethischen Grundsatzes tatsächlich überengagierte Versorgung vermeiden hilft, müsste zukünftig evaluiert werden.


 

DOI: 10.3238/PersOnko.2018.11.23.03

Prof. Dr. med. Birgitt van Oorschot
Interdisziplinäres Zentrum Palliativmedizin,
Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie, Universitätsklinikum Würzburg